Couture - Wenn Liebe Stärker ist

Couture - Wenn Liebe stärker ist

»So eine verfluchte Scheiße!«

Entsetzt blickte ich in ein Paar äußerst wütender Augen. Es war, als würde jemand einen Eimer eiskalten Wassers direkt über meinem Kopf entleeren, immer und immer wieder, und gleichzeitig schoss heiße Scham in meine Wangen. Das hier war nicht gut, gar nicht gut.

»Sorry«, brachte ich hervor, krächzend und mit wackelnder Stimme, doch natürlich machte es das nicht besser.

»Sorry?«, keifte der Mann los. »Sorry? Ich glaub, ich spinne!«

»Beruhige dich, Mann!«, mischte sich ein anderer Typ ein - er stand direkt neben ihm und legte eine Hand auf seinen Oberarm, ganz so, als müsste er ihn zurückhalten. »Das geht wieder raus. War sicher nur ein Versehen.«

»Das geht wieder raus?«, äffte der Typ seinen Freund nach, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Eine steile Zornesfalte bildete sich auf seiner Stirn und entstellte sein Gesicht, das ich unter anderen Umständen sicherlich als hübsch empfunden hätte. Seine Stimme hatte einen schwer einzuordnenden Akzent. »Das hier ist ein verdammter Anzug von Armani, und ich habe gleich ein Meeting! Ich wollte hier nur meine Pause verbringen, nicht den Rest des Tages versauen!«

Ehe ich ein weiteres Wort über die Lippen bringen konnte, eilte schon eine Kollegin zu mir - eine, die in solchen Dingen wesentlich galanter sein konnte und wusste, was zu tun war, um den Kunden zu besänftigen. Nicht ganz freundlich schubste sie mich mit ihrem Ellenbogen beiseite, nur um dann mit eifriger Stimme auf den Mann einzureden, dessen Hemd ich soeben eindeutig ruiniert hatte.

Mein Magen verkrampfte sich, als ich den Rückzug antrat.

Es war schon das dritte Mal, dass mir ein derartiges Missgeschick geschah.

Sofort überrollte mich mit aller Macht die allumfassende Angst, die seit nunmehr vier Jahren immer und immer wieder mein ständiger Begleiter war. Keine Angst vor einem kleinen Rüffel oder vielleicht sogar einem handfesten Anschiss von meinem Chef, nein. Es war weitaus mehr.

Angst um die bloße Existenz.

Zögerlich warf ich einen Blick über meine Schulter - und erhaschte einen kurzen Blick auf das noch immer vor Wut verzerrte Gesicht des Mannes, dessen Outfit ich mit dunkelbraunen Kaffeeflecken verziert hatte. Er wirkte vielleicht ein kleines bisschen besänftigt, aber noch immer äußerst aufgebracht. Was auch immer meine Kollegin sagte, es schien eine Wirkung zu haben, wenn auch nur eine geringe.

»Du taugst echt zu gar nichts«, murmelte ich mir zu, als ich die letzten Schritte durch den Verkaufsraum hinter mich brachte, ehe ich durch die schwingende Holztür direkt in die Küche verschwand. »Verdammt nochmal!«

Mein Herz pochte schmerzhaft in meiner Brust.

Ich war mir sicher, dass ich nichts Falsches getan hatte. Nicht diesmal, nicht wie sonst. Seitdem ich in diesem kleinen Café arbeitete, hatte ich schon einige Male für Trubel gesorgt. Ein umgekipptes Tablett, vertauschte Rechnungen, Scherben, all so etwas. Heute hatte ich nun wirklich nicht verhindern können, mit diesem Mann zusammenzuprallen, der sich ganz plötzlich in meinen Weg gestellt hatte. Plötzlich wurde mir bewusst, dass dieser Typ nicht der Einzige war, dessen Outfit versaut wurde, und ein neuerlicher Fluch entkam meinen Lippen, als ich über die hellbraun verfärbte, feuchte, nach Kaffee duftende Bluse strich, die es unmöglich machte, wieder nach draußen in den überfüllten Verkaufsraum zu gehen. Natürlich hatte ich keinen Ersatz dabei. Ein weiterer Minuspunkt auf meiner langen Liste der Verfehlungen, die sich scheinbar nur allzu gerne fortführte.

»Verdammt nochmal, Felicia!«

Mit einem lauten Knall flog die Tür zur Küche auf - so schwungvoll, dass sie mit der Wand kollidierte, ehe sie wieder ins Schloss zurückfiel. Ich zuckte schuldbewusst zusammen, während ich mich meiner Kollegin zuwandte. »Ich habe das nicht extra gemacht!«, entfuhr es mir, ehe ich es verhindern konnte - eine wahrlich kindische Reaktion. Genervt biss ich mir auf die Wange.

Die leicht verbraucht aussehende Frau, die noch immer im Eingangsbereich stand und ihre Hände kampfeslustig in die Seiten gestemmt hatte, wirkte plötzlich sehr müde. »Das glaube ich dir sogar«, seufzte sie auf. Ihre Tonlage - fast schon mitleidig - hätte mich beruhigen müssen, doch meine Alarmglocken schrillten nur noch lauter. »Aber das ändert nichts daran, dass du einen sehr einflussreichen Kunden verärgert hast. Ich werde das dem Chef melden müssen, das weißt du, oder?«

Sofort preschte ich nach vorne. »Muss das wirklich sein? Im Ernst, Brigitte, das war ein Unfall! Ich habe mich entschuldigt und du hast ihn beruhigt, reicht das nicht?«

Brigittes Blick wurde finster. Dann wedelte sie mit einem Zettel. »Die verdammte Reinigung des Hemdes geht auf unsere Kosten! Meinst du wirklich, das könnte ich verschweigen? Oder willst du es auf deine Kappe nehmen?«

Am liebsten hätte ich sofort »Ja« geschrien, doch die traurige Wahrheit war, dass ich nicht einmal für solch einen unerwarteten Posten genug Geld hatte. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Donnerschlag. »Du hast recht«, flüsterte ich mit leiser Stimme - und meine Arme sackten herab, kraftlos.

»Hoffen wir, dass er einen guten Tag hat.« Vermutlich wollte Brigitte mich damit lediglich aufbauen - doch das misslang ihr gehörig.

Mein Chef hatte selten gute Laune.

 

* * *

 

Zwei Stunden später stand ich auf der Straße. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass mir das soeben passiert war. Mein Chef hatte mich tatsächlich vor die Tür gesetzt. Einfach so - als würde es keine Rolle spielen, dass ich mir in den vergangenen Monaten den Arsch aufgerissen hatte, als würde es niemanden interessieren, dass ich nicht nur mich selbst, sondern auch meine kleine Schwester über die Runden bringen musste. Scheiß auf die Probezeit! Scheiß auf meinen Chef und seine Prinzipien.

Und scheiß auf den Anzugträger!

Die Angst, die schon seit geraumer Zeit mein ständiger Begleiter war, sich immer wenige Zentimeter hinter mir befunden und kalten Atem in meinen Nacken gehaucht hatte, umfasste mich nun mit weit geöffneten Armen, ließ mein Herz schwer werden.

»Wie soll es nur weitergehen?«, wisperte ich in die Dämmerung, doch natürlich stand dort niemand, der mir antworten konnte.

Niemand, der mir antworten wollte.

Ein eiserner Ring legte sich um meine Brust und begann, sich immer enger zu schnüren. Ich wusste, dass ich mich am Rande einer Panikattacke befand, an einem äußerst bröckeligen Rand, der in ein tiefes Loch führte, doch in der Vergangenheit hatte ich solche Momente schon oft genug erlebt. Vielleicht nicht so heftig wie gerade, aber ich wusste, was zu tun war.

»Ruhig durchatmen«, presste ich durch zusammengebissene Zähne hervor. Jedes Wort kostete mich unglaublich viel Kraft, quälte sich mit Reißzähnen über meine Lippen, und meine Brust schien sich mehr und mehr zusammenkrampfen zu wollen ... doch dann bekam ich mich in den Griff. Es dauerte ein paar Minuten, in denen ich tief ein- und ausatmete, zittrig, dann immer fester werdend, und der Nebel vor meinem Auge zog sich langsam zurück.

»Du schaffst das schon«, murmelte ich mir zu, meine Stimme schon wieder fester, und fast, aber nur fast, glaubte ich meinen eigenen Worten. »Wir schaffen das schon.«

Ein Auto raste an der kleinen Gasse vorbei und riss mich urplötzlich aus meinen quälenden Gedanken. Lauter, aggressiver Hiphop strömte aus den geöffneten Fenstern und hüllte die Straße kurz in eine Kakofonie des Lärms.

Mehr brauchte ich nicht. Ich blinzelte, atmete noch ein letztes Mal tief durch und umfasste dann den Schulterriemen meiner kleinen, schwarzen Tasche fester. »Fick dich«, murmelte ich - an meinen Ex-Chef gerichtet, der mich mit diesen ausdruckslosen, kalten Augen angeschaut hatte. »Fickt euch alle!«

Wut nahm den Platz ein, den zuvor die Angst hatte einnehmen wollen, doch das hieß ich nur allzu gern willkommen. Wut kannte ich. Mit Wut konnte ich umgehen.

Die neue Energie brachte mich in Bewegung, und ich stolperte los - mir stand ein kleiner Fußmarsch bevor.

 

* * *

 

Ich lebte mit meiner kleinen Schwester in einem winzigen Ein-Zimmer-Apartment. Als wir die 35 Quadratmeter damals bezogen hatten, war es eigentlich nur eine Übergangslösung gewesen. Für gewöhnlich lebte in solchen Unterkünften eine einzelne Person, allerhöchstens ein Pärchen. Auch wenn Isabell und ich uns nahe standen - ein wenig mehr Privatsphäre hätte uns sicherlich gut getan. Doch wie so oft im Leben waren es nicht die persönlichen Wünsche, die eine Rolle spielten - nein. Es war das Geld, das darüber bestimmte, wie viel man sich leisten konnte, und von Geld hatten wir schon eine ganze Weile lang nicht mehr genug.

 Aus der Übergangslösung war eine Dauerlösung geworden, derart zur Normalität, dass ich nur noch selten in Frage stellte, warum wir an solch einem Ort lebten - geschweige denn, dass wir Erinnerungen daran zuließen, wie es einmal gewesen war.

Was wir einmal hatten.

Was wir verloren hatten.

An diesem Abend fiel es mir schwer, nach Hause zu kommen. Die Wut, die mich wieder in Bewegung gebracht, die mich aus meiner Erstarrung gelöst hatte, hatte sich im Laufe des Weges nach und nach wieder verzogen und Platz geschaffen für eine so tiefe Müdigkeit, dass ich kurz davor gewesen war, mich auf einer Parkbank auszuruhen. Einzig die Angst, einzuschlafen und so zu einem leichten Opfer für Räuber zu werden, hatte mich vorangetrieben. Nun zitterte meine Hand, als ich mehrfach versuchte, den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür zu befördern. Immer wieder glitt ich ab, schaffte es nicht, den schmalen Schlitz zu treffen, und ein Gefühl von Enge breitete sich in meinem Hals aus - eines jener Art, das zum Vorboten eines Schreis werden konnte.

Es war einfach nur frustrierend.

 Erneut flutete mich Wut, nur kurz und schwach, wie eine seichte Erinnerung an vorhin, und dann, endlich, glitt der Schlüssel mit einem leichten Kratzen ins Schloss und ich schaffte es, die verdammte Tür aufzusperren. Alles, was ich mir nun wünschte, war eine heiße Dusche. Danach dann mein Bett. Zu wissen, dass ich kurz davor war, all das zu erreichen, entlockte mir ein resignierendes Stöhnen. Kaum hatte ich die Tür aufgeschoben, sprang mir Isabell förmlich entgegen - mit fragendem Blick und erschrocken aufgerissenen Augen.

»Was suchst du denn hier, Feli?«

Ich brummte auf. »Bin wohl wieder daheim, was?«

»Im Ernst, was machst du hier? Ich habe noch nicht mit dir gerechnet!«

Prüfend warf ich meiner kleinen Schwester einen Blick zu. Unter anderen Umständen hätte mich diese Fragerei vielleicht genervt - ich hatte einen nervenaufreibenden Nachmittag hinter mir. Derart gelöchert zu werden, war nicht gerade die Art von Begrüßung, die ich mir erhofft hatte. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Isabell«, erwiderte ich mit knurrender Stimme.

Vielleicht lag es an dem Tonfall, an der Art und Weise, wie meine Schultern herabgesackt waren, gepaart mit der Tatsache, dass ich früher als erwartet nach Hause gekommen war - doch plötzlich erhellte Erkenntnis die Züge meiner kleinen Schwester. Eine Erkenntnis, die nicht gerade positiv war.

»Du hast deinen Job verloren, oder?«, brachte sie hervor, und mit einem Schlag war der nervende Unterton aus ihrer Stimme verschwunden. Da war nichts mehr - nichts außer Angst und Unsicherheit.

Schuldgefühle fluteten mich, und sofort schossen Tränen in meine Augen. »Es ... es tut mir leid, Isa«, war alles, was ich hervorbringen konnte, ehe meine Stimme versagte. Als würde ein stillschweigendes Abkommen zwischen uns herrschen, fielen wir uns in die Arme, und für eine Weile hielten wir uns einfach nur - im Eingangsbereich des kleinen Apartments, ich immer noch in meine Jacke gehüllt und voller widersprüchlichster Gefühle.

Hilflos.

»Es tut mir leid«, wiederholte ich irgendwann, als die Schuldgefühle mich zu erdrücken drohten, doch fast im selben Augenblick fuhr meine Schwester mir über den Mund.

»Hör auf, ja?«, rief sie lauter als nötig. Sie rückte ein Stück von mir ab, blickte mich prüfend an. »Weißt du was? Ich habe eine Idee.« Dann zog sie mich in den Wohnraum und schubste mich auf die Couch - ganz gleich, dass ich noch in meinen Straßenklamotten steckte. »Fernsehen und Eis, das ist es, was du jetzt brauchst!«

 

* * *

 

Wir saßen eine gefühlte Ewigkeit beisammen, einfach so, ohne darüber zu reden, was uns nun bevorstand. Nach einer Weile hatte ich meine Schuhe von den Füßen gekickt und die Jacke von meinen Schultern geschüttelt, nur um mich tiefer in die abgewetzten Kissen unserer Couch zu kuscheln. Es war leichter als gedacht, sich von den Ereignissen des Tages zu lösen, um nicht mehr über das Drohende nachzudenken, sich stattdessen ganz auf den Moment zu konzentrieren.

Irgendwann bemerkte ich, wie müde ich war. Es wurde anstrengend, den flimmernden Bildern auf dem kleinen Fernseher zu folgen, weshalb ich gedankenverloren meine kleine Schwester betrachtete.

Vor wenigen Wochen war Isabell fünfzehn Jahre alt geworden. Sie machte eine sehr schwierige Zeit durch, was mir wieder einmal schmerzlich bewusst wurde, als ich die leicht unbeholfenen Schminkversuche betrachtete, die sich einen Weg in die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln gegraben hatten. Reste von hellgrünem Lidschatten, etwas klumpige Mascara, ein zu weit gezogener Lidstrich. Offensichtlich hatte sie versucht, ihre hellgrauen Augen zu betonen, so wie ich es auch für gewöhnlich tat. Diese Tatsache versetzte mir einen Stich. Meine Schwester steckte mitten in der Pubertät, wollte sich nicht mehr verhätscheln lassen, zumindest die meiste Zeit. Und ganz offenbar versuchte sie, ihrer älteren Schwester nachzueifern. Es war kein gutes Gefühl, das zu sehen - nicht, weil es so offensichtlich unbeholfen aussah, sondern vielmehr, weil es mich daran erinnerte, dass meine kleine Schwester langsam aber sicher dem Bild entwuchs, das ich von ihr geschaffen hatte.

Sie wurde erwachsen, versuchte es zumindest.

Seufzend ließ ich meinen Kopf auf die Lehne fallen und schloss meine Augen. Nicht, dass sie nicht in den vergangenen Jahren bereits hatten lernen müssen, irgendwie erwachsen zu werden. Die Zeit war nicht spurlos an mir vorbeigegangen, wieso sollte es bei Isabell anders sein? So war das Leben, verdammt grausam ...

Und da war sie wieder. Die Erinnerung. Oder, noch besser, die Gewissheit. Ich hatte meinen Job verloren. Einen nicht gerade gut bezahlten und oftmals stressigen, aber einen zuverlässigen Job. Einen, mit dem ich in den vergangenen Monaten unseren Lebensunterhalt weitestgehend bestritten hatte. Der uns eine Sicherheit verschafft hatte.

Klar, wir hatten Isas Waisenrente. Sie war nicht volljährig, weshalb uns eine gewisse Unterstützung zukam. Doch das Geld reichte bei weitem nicht, um über die Runden zu kommen, nicht langfristig. Wir hatten die Miete, wir hatten laufende Kosten. Wir hatten Schulden abzubezahlen, die meine Eltern uns vererbt hatten.

Ja verdammt, man konnte auch rote Zahlen erben.

Und außerdem fiel es mir schwer, an Geld zu gehen, das ihr gehörte. Ich wollte so viel wie möglich davon für ihre Zukunft beiseitelegen.

Wie sollte es nun also weitergehen?

»Hey.« Isas Hand schob sich plötzlich über meine Faust, begann, beruhigend darüber zu streichen. »Du weißt schon, dass wir eine Lösung finden werden, oder?«

Ein Lachen platzte über meine Lippen, vermischt mit einem trockenen Schluchzer, als ich ein weiteres Mal meine Schwester in die Arme zog. Ich hoffte so sehr, dass sie Recht behielt - oh Gott, und wie sehr ich das hoffte!

Schreiben - das ist mein Traum, mein Lebensinhalt. Seit 2013 veröffentliche ich meine Geschichten. Weil es Spaß macht und weil ich euch schöne Stunden bescheren möchte!

Mein Leitspruch:


"Wenn du es träumen kannst, kannst du es auch tun."
(Walt Disney)

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