Nachdenklich rührte ich in meinem Cocktail und starrte blind aus dem Fenster. Um mich herum herrschten reger Betrieb, viel Gelächter und Geplauder, doch das alles floss an mir vorbei, als wäre ich
ein riesiger Stein inmitten eines Flussbettes. Mehr als kleine Verwirbelungen erzeugte ich nicht, ein Nicken hier und ein Murmeln da, das war's.
Ich weiß nicht, wieso ich mich überhaupt dazu hatte überreden lassen, an dem doofen Treffen teilzunehmen. Spontan hatte sich die halbe Belegschaft für einen Glühweinspaziergang verabredet, und gerade
als mich Tracy mit kullerrunden Augen gefragt hatte, ob ich mitkommen würde, hatte mich meine Spontanität natürlich verlassen und mir war keine passende Ausrede eingefallen. Das »ähhhh« hatte sie als
klare Zusage gedeutet und mir den Rest der Woche keine Ruhe mehr gelassen.
Und jetzt saß ich hier.
Hinz flirtete mit Kunz und umgekehrt, doch ich saß wie ein sexuelles Neutrum dazwischen und schaffte es gar nicht, mein Elend mit Alkohol zu betäuben. Eilig kippte ich einen großen Schluck meines Sex
on the Beach - haha, sehr witzig - hinunter und überlegte zum wiederholten Male, ob ich nicht einfach den Abend beenden und nach Hause gehen sollte.
Mit Schaudern dachte ich an die letzten Stunden. Einen um den anderen Glühweinstand hatten wir abgegrast, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich konnte nicht abstreiten, dass der Abend für meine Kollegen
schön war, doch ich selber fühlte mich so fehl am Platz wie eine Schüssel Pudding im Meer.
Oder eben wie der Stein im Fluss.
Ich gehörte einfach nicht dazu. Während die Freude um mich herum mit dem steigenden Alkoholpegel zu einer wahren Fontäne eruptierte, brannte mein Innerstes vor Trauer. Die offizielle Weihnachtszeit
hatte begonnen, kleine, weiche Flocken rieselten behäbig vom Himmel und hüllten die Stadt in ein nahezu kitschiges Weiß.
Vor gut zwei Monaten hatte ich André abserviert. Oder er mich, wenn man es genau betrachtete, denn immerhin hatte sein Verhalten mich zu dieser einzig möglichen Option getrieben. Der Verrat steckte
noch immer tief in meinen Knochen, schaute mich jedes Mal aufs Neue an, sobald ich in den Spiegel blickte und meine rotgeäderten Augen sah. Ich bereute es so sehr, mich jemals auf ihn eingelassen zu
haben. Ich hatte es besser gewusst, von Anfang an, niemals ohne Grund zur Gänze auf solche Arten von Beziehungen verzichtet. Dass ich gerade bei meinem ersten Versuch derart auf die Nase fliegen
musste, war eine nahezu logische Konsequenz.
»He, Lucy, guck nicht so grimmig!« Einer meiner Arbeitskollegen, Anfang vierzig, verheiratet und alles andere als nüchtern, rammte mir plötzlich seinen Arm auf die Schultern und hauchte mir seine
Promille ins Gesicht. »Du sollst doch Spaß haben, nicht wahr?« Zuspruch suchend (und ärgerlicherweise bekommend) warf er einen Blick in die Runde. »Wie wäre es mit einer Runde Tequila?«
Ich erschauderte. Tequila, oh Mann. Damit verband ich nicht gerade die besten Erinnerungen, und er würde mir üble Kopfschmerzen bereiten. Andererseits stand mir durch den vielen Glühwein sowieso
bereits ein Kater bevor - da würden ein paar Kopfschmerzen mehr oder weniger auch keinen Unterschied machen.
Gute Miene zum bösen Spiel, riet ich mir. Besser, als mal wieder einen Freitagabend alleine im Bett zu verbringen! Ich zwängte meine Mundwinkel nach oben und zeigte ebenfalls Zuspruch. »Klar, wieso
nicht. Her damit.«
Meine Aussage wurde mit Jubel bekundet. Irgendjemand bestellte die Runde und das fröhliche Geplauder ging weiter. Ich gab mir nun Mühe, etwas weniger abwesend zu wirken, ohne jedoch ein Gespräch an
mich zu reißen. Ich war wirklich gut im Zuhören und Nicken, soviel stand fest, denn mein geheucheltes Interesse wurde akzeptiert.
Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Noch nie hatte ich zu den Menschen gehört, die sich auf engster Art und Weise mit ihren Kollegen einließen. Von jeher hatte ich Berufliches und Privates getrennt
- dass ich nun vor allem im beruflichen Leben steckte und kaum noch Privates stattfand, war nicht die Schuld meiner Kollegen, sondern ganz alleine meine.
Ich konnte froh sein, dass ich durch Tracy und die anderen überhaupt ein bisschen unter Menschen kam, auch wenn das schwere Arme auf den Schultern, Alkoholfahnen im Gesicht und Druckbetankung
bedeutete.
Die Runde Tequila wurde an den Tisch gebracht. Während wir alles für den einen brennenden Schluck vorbereiteten, nach Zitronenspalten und Salz griffen, fragte ich mich kurz, wieso ich mich überhaupt
so anstellte. Ich musste dankbar sein für alles, was mir derzeit eine Ablenkung vom Alltag bot, denn in meinem mir selbst auferlegtem Zölibat gab es davon nicht viel.
Ich wusste, dass ich mich mehr als arschig Mark gegenüber verhielt. Es war nicht seine Schuld, dass es zwischen André und mir nicht funktioniert hatte und das Letzte, was ich wollte, war, dass er
seinen gerade neu gefundenen Mitbewohner wieder aus der WG schmiss. Ich war mir ziemlich sicher, dass er dies tun würde, wenn ich ihm das Ausmaß des Verrats und der Verletzung schildern würde, doch
genau das wollte ich verhindern. Das Problem lag einzig zwischen mir und André, und Mark litt schon genug darunter, dass wir uns nun nur noch so wenig sahen. Nicht, dass wir uns gar nicht mehr
trafen, doch ich verweigerte jede Einladung in die WG. Ein einziges Mal hatte ich nachgegeben, als ich sicher gewusst hatte, dass André nicht da sein würde, doch allein der Geruch, die Erinnerungen,
die Präsenz von André hatten mein Innerstes zerfetzt und die gerade heilenden Wunden wieder aufgerissen. Es hatte keinen Zweck; die WG war nicht mehr der Rückzugsort, den er einmal dargestellt hatte.
Hinter diesen Zeiten musste ich endgültig einen Haken machen.
»Auf die Frauen und die Arbeit - Prost!«
Um mich herum flogen Tequilagläser durch die Luft und fanden mehr oder minder genau ihr Ziel. Eilig tat ich es den anderen nach und schluckte den brennenden Alkohol hinunter. Obwohl die Säure der
Zitrone und das Salz den Geschmack ein wenig abschwächten, spürte ich doch das Brennen in meinem Hals und beschloss, mich auf keinen weiteren Kurzen mehr einzulassen. Nicht diesen Abend. Nicht mehr.
Ich spürte, dass mir der Alkohol zu Kopfe stieg und bekam ein bisschen Angst vor dem Heimweg. Von der Bar aus, in der wir nach der Glühweintour unser Lager aufgeschlagen hatten, waren es etwa zwanzig
Minuten Fußmarsch nach Hause - im nüchternen Zustand und im Hellen. An einem Freitagabend und in diesem Zustand würde ich mich jedoch kaum so nach Hause trauen. Mir würde nichts anderes übrig bleiben
als mir den Luxus eines Taxis zu gönnen.
Das Problem hättest du nicht, wenn André noch an deiner Seite wäre. Ich zuckte zusammen. Wieso kam diese teuflische Stimme ausgerechnet jetzt wieder hoch, nach all den Wochen?
In der ersten Zeit nach der abrupten Trennung hatte sie mich dauerhaft malträtiert. Zweifel, Wut und Enttäuschung hatten sie hervorgerufen und mich in die unterschiedlichsten Extreme menschlicher
Empfindungen katapultiert. Die meiste Zeit hatte die Wut dominiert, denn sie hatte es wesentlich einfacher gemacht, mit der neuen, ungewohnten Situation umzugehen. Im einen Moment hatte ich alles
gehabt - im nächsten Moment nichts.
Nun, das war sicherlich überspitzt, immerhin hatte ich nach wie vor mich und die Sicherheit meiner vier Wände. Zumindest glaubte ich das, bis eines Tages André eben diese Sicherheit durchbrach. Mit
dem Schlüssel, den ich freiwillig in der WG gelassen hatte.
Bei der Erinnerung an jenen Nachmittag schmerzte meine Brust, als würden mehrere kleine Messer immer wieder unbarmherzig in sie hineinstechen, weshalb ich sie mit aller Macht von mir schob.
Irgendwann würde ich mich mit ihr auseinandersetzen, um sie verarbeiten und abhaken zu können, doch gerade erschien mir die Option, meine Gefühle durch Alkohol zu dämpfen, weitaus reizvoller, weshalb
ich sofort aufschrie, als jemand nach der Bereitschaft für eine neue Runde fragte. Soviel zu meinen edlen Vorsätzen, stellte ich grunzend fest, schob jedoch auch diesen Gedanken von mir fort. Nach
mir die Sintflut und vor mir der Kater - dazwischen konnte ich wenigstens das Beste geben, um meine Situation zu entschärfen, oder?