Langsam kam Lina zu sich. Ein Morgen wie jeder andere auch? Sie war sich nicht sicher. Irgendetwas hatte sie geweckt, sie unsanft aus ihren Träumen gerissen. In der Dunkelheit fiel es ihr schwer,
sich zu orientieren; nur langsam wollte der Schlaf sich verziehen. In seinem Nebeldunst drangen leise Geräusche an ihr Ohr.
Schritte, draußen vor ihrer Tür.
Mit einem Schlag war sie hellwach.
Jede Faser ihres Körpers spannte sich schmerzhaft an, als sie lauschte, ob die Schritte näher kommen würden. Während alles in ihr sirrte wie eine zu straff gespannte Saite, spürte sie, wie Panik
langsam in ihr hochkochte. Gefangen in diesem Flashback der Angst, in all diesen Emotionen, die sich jahrelang in ihr aufgebaut und sich wie ein Schutzkokon um sie gelegt hatten, konnte sie zunächst
nicht verarbeiten, was gerade tatsächlich geschah.
All die Jahre hatten ihre Sinne sich sensibilisiert. Sobald sich jemand in der Nähe ihres Schlafzimmers aufhielt, schrillte die kleine, grellrote Alarmglocke auf und versetzte sie in einen Zustand
der Angst und Aufregung.
Was würde geschehen, wenn diese Schritte näher kamen? Würde er nur vorbeischauen, nach seiner Lina schauen und überprüfen, ob sie brav im Bett lag?
Würde er das Zimmer betreten, in dem Bestreben, sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen, bevor der Tag in all seiner Gänze startete?
Oder würden die Schritte ohne Umwege an ihrem Zimmer vorbeilaufen, uninteressiert, unbeirrt, ohne Störung?
Linas Herz pochte schmerzhaft in ihrer Brust, als sie starr in die Dunkelheit blickte, unfähig, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen. Jedes Mal
aufs Neue war es unerträglich, wenn diese Angst sie erfasste. Seinen eigenen Gefühlen derart ausgeliefert zu sein, das war wohl das Schlimmste, was einem passieren konnte. Wer schaffte es schon,
seine Emotionen einfach so abzuschalten? Wie kämpfte man gegen innere Dämonen an, die spürbar in der Überzahl waren und stets aus dem Hinterhalt angriffen?
Was nützte es, wenn die Schritte weitergingen, der Terror in ihr aber dennoch nicht geringer wurde?
Ein kleiner Schluchzer entkam Linas Kehle.
Plötzlich legte sich ein Arm um sie - warm, weich, erschreckend nah. »Hey, alles ist gut. Dir passiert nichts.« Weicher noch als seine Haut war Erics Stimme, während er Lina vorsichtig aber bestimmt
an seine Brust zog. Auch er war sensibler geworden, hatte sich voll und ganz auf Lina eingestellt. Ihr kleiner Schluchzer, dieser winzige, verletzliche Laut hatte genügt, um ihn aus dem Schlaf zu
reißen. Sofort hatte er ihre Anspannung gespürt. Schläfrig aber besorgt umschlang er ihren schmalen, angespannten Körper. »Alles ist gut!«
War Lina zuvor noch zum Zerbersten gespannt gewesen, so zerbrach sie nun in tausend zittrige Stücke. All die Anspannung - nur eine Erinnerung an vergangene Zeiten. Sie war in Sicherheit, war bei
Eric. Ihr Rettungsanker, ihr Helfer, ihr persönliches Wunder. Es war anders gewesen als sonst, denn sie lag nicht in ihrer alten Wohnung. Würde dort nie wieder liegen müssen. Sie war in Erics Armen,
in ihrem Gästezimmer, und die Schritte, die sie vernommen hatte, gehörten Erics Eltern.
Oder waren ihrer Fantasie entsprungen.
So oder so - sie kamen nicht von Stefan, würden nie wieder von ihm kommen, zumindest nicht, wenn sie im Bett lag und vollkommen verletzlich war. Er würde nie wieder so nahe an sie herankommen.
Wenn alles so lief, wie es geplant war.
Lina brauchte keinen Blick auf die Uhr zu werfen, um zu wissen, dass es noch viel zu früh war, um nun aufzustehen. Sie würde sich ohne Probleme noch einmal umdrehen und einschlafen können. Doch der
Schock saß zu tief, trotz allem, trotz der vergangenen Wochen. Ihr stetig klopfendes Herz erinnerte sie erbarmungslos daran. Noch immer konnte sie sich nicht in der Sicherheit wähnen, die ihr das
neue Zuhause bot, da sie so lange in Unsicherheit geschwebt hatte. Diese Veränderung war viel zu neu, als dass sie sich in ihrem Unterbewusstsein hatte abspeichern können.
»Hey, entspann dich doch«, murmelte Eric in ihr Haar. Langsam streichelte er über ihren Rücken, spürte das klamme Oberteil, das feucht auf ihrer Haut lag. Bestimmt wieder ein Albtraum, schoss es ihm
durch den Kopf. Es wäre gelogen, würde er behaupten, dass er sich an diese Zustände gewöhnt hatte, doch zumindest fand er immer häufiger einen direkten Draht zu Lina und schaffte es, ihre Panik zu
beenden - oder zumindest zu mildern. Er mochte sich gar nicht ausmalen, wie sehr sie leiden musste und welche Bilder ihr durch den Kopf schossen, wenn sie sich in diesem Zustand befand. Unwillkürlich
umfasste er ihren Körper ein wenig fester, als könne er durch seine bloße Anwesenheit verhindern, dass diese schlimmen Bilder ihre Sicherheit zerstörten. In der Dunkelheit war sein verzerrtes Gesicht
nicht zu erkennen.
Langsam spürte Lina, wie sie ruhiger wurde. Dass sie sicher war, beschützt durch Erics Nähe, durch seinen warmen, starken Körper und durch seine weiche Stimme. Dass ihr Stefan nichts antun konnte.
Nicht mehr. Diese Angstattacken verlangten ihr viel ab, und seit jenem Übergriff nach ihrer Deutschklausur traten sie in beunruhigender Häufigkeit auf. Die Tatsache, dass Eric seit jenem Tag noch
weniger von ihrer Seite wich und sich Abend für Abend an sie kuschelte, um ihr selbst im Schlaf Sicherheit zu vermitteln, half ihr zwar meistens - aber nicht immer. Schon gar nicht, wenn sie so
schutzlos war wie im Schlaf. Nicht in den frühen Morgenstunden, wenn die ganze Welt noch halb betäubt war - und umso angreifbarer. Gegen ihre inneren Dämonen konnte sie sich nicht einmal selbst
schützen - wie sollte es dann ein Außenstehender schaffen? Lina spürte, wie sich ein eisernes Band um ihre Brust legte, wie immer, wenn sie sich diesen Gedanken stellen musste.
»Möchtest du darüber reden?« Erics Stimme hallte leise durch den Raum.
»Ach«, brachte sie zittrig hervor. »Das Übliche.« Schritte vor der Tür, von irgendwem. Erinnerungen. Er. Das alles und doch nichts.
»Du bist hier sicher. Dir kann nichts passieren.« Obwohl Lina es wusste, musste sie es immer wieder hören.
Eine ganze Weile lagen sie in der Dunkelheit, engumschlungen. Mit langsamen, ruhigen Bewegungen streichelte Eric über Linas Rücken. Die monotone Berührung lullte sie ein, bis sich der Druck auf ihrer
Brust langsam lüftete. Ihr Herzschlag wurde wieder langsamer, immer ruhiger, bis auch das letzte bisschen Panik aus ihren Gliedern gekrochen war.
»So ist es gut«, flüsterte Eric ihr heiser zu. »Schlaf noch ein bisschen. Wir haben einen schönen Tag vor uns.«