Lina - Hoffnung auf Leben

Lina - Hoffnung auf Leben

Es war ein Morgen wie jeder andere auch. Noch bevor der Wecker klingelte, war Lina schon das erste Mal wach. Fünf Uhr morgens. Sie hörte, wie etwas durch die Wohnung polterte.

Nicht etwas. Jemand.

Er stand auf, musste zur Arbeit.

Lina zog die Decke noch ein Stück weiter über den Kopf, ihr persönliches Schutzschild, ihre Sichtblende, die die Wirklichkeit ausschloss.

Wie jedes Mal, wenn sie die schweren Schritte hörte, schlug ihr Herz ein wenig schneller. Jedes Mal, auch wenn sie wusste, dass Ihm dafür keine Zeit blieb, befürchtete sie, seine Schritte würden ihn immer näher an ihre Zimmertür bringen. Immer näher, in ihr Zimmer hinein.

Doch während sie erstarrt auf Geräusche lauschte, hörte sie die schlurfenden Füße ins Badezimmer gehen.

Lina entspannte sich.

Ein Blick auf die Leuchtanzeige ihres Weckers zeigte ihr, dass sie noch zwei Stunden schlafen konnte. Seufzend drehte sie sich auf die Seite und starrte in die Dunkelheit.

Wenn das Schlafen nur so einfach wäre, schoss es ihr durch den Kopf.

Schlaf, ein Grundbedürfnis des Menschen. Im Schlaf konnte sich der Körper erholen, Kräfte regenerieren und Erfahrungen, die im Unterbewusstsein abgespeichert wurden, verarbeiten. Aufbereiten wie eine Mahlzeit, einzelne Erinnerungsbruchstücke zusammenwerfen wie die Zutaten eines bunten Salates, durcheinander würfeln, das Dressing der Nacht darüber gießen und dann in neuer Zusammenstellung genießen.

Schlaf.

Es waren diese Stunden des Tages, die Lina am meisten fürchtete. Wenn es dunkel wurde, fühlte sie sich besonders verletzlich. Schutzlos musste sie sich den Gefahren des Gedächtnisses hingeben, oder, schlimmer noch…

Lina schüttelte den Kopf. Sie wollte, sie durfte jetzt nicht darüber nachdenken, sonst

(nein, nein, nein, bitte lass mich einfach daliegen, lass die Zeit vergehen)

würde es wieder ein schlechter Tag werden.

Sie lachte lautlos auf, bitter. Als wenn nicht acht von zehn Tagen immerzu schlecht wären.

Erneut Schritte auf dem Flur.

Sie erstarrte. Zog sich noch weiter unter die Decke zurück. Diesmal wusste sie intuitiv, dass Er nicht weitergehen würde. Sie lauschte dem Knarzen der Bretter, seinen schlurfenden Schritten, konnte sich vor ihrem inneren Auge ausmalen, wo er sich gerade befand. Er passierte die Kommode im Flur, zwei Schritte noch, jetzt stand er vor ihrer Tür. Fast schon bildete sie sich ein, seinen schweren Atem zu hören. Sein Keuchen.

Mit dem Gesicht zur Wand, die Augen fest zugekniffen, lag sie zusammengerollt wie ein Fötus unter ihrer Decke und versuchte, die Realität zu verdrängen. Während die Tür sich leise öffnete, kein Knarren, dafür hatte Er schon lange gesorgt, wurde das Rauschen in ihrem Kopf immer lauter, lauter, lauter. Ein schmaler Lichtstreifen schob sich durch den geöffneten Türspalt, wanderte zu ihrem Bett und umspielte ihre verhüllten Rundungen. In einem Moment unerträglicher Spannung hörte sie tatsächlich seinen schweren Atem,

(sein Keuchen!)

spürte seine Anwesenheit, roch sein billiges Rasierwasser und hörte ihn Luft holen, hörte, wie er ihr etwas zu sagen hatte.

„Schlaf gut, mein Engel.“

Noch leiser als zuvor schloss er die Tür, und Lina, deren Magen sich verkrampfte, flossen heiße Tränen über die Wangen.

Schlaf gut, mein Engel.

Heute würde ein schlechter Tag werden.

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© Emma S. Rose